Die Samariterin am Brunnen
Gedicht von Karl Ernst Knodt
Spätsommermittag. Im Lichte schweigt
Die Schöpfung. Nur noch die Grille geigt
Das ewige Lied, dem nie Antwort wird,
Gleich der Sehnsucht, die durch Jahrtausende irrt.
Doch siehst du nicht dort die Sehnsucht gehn
Und als fragende Frau vor Einem stehn,
Der strahlt wie die Antwort, das Augenlicht
Noch strahlender als das Sonnenlicht?
Oh Sehnsucht, du Frau: In dir stellt die Zeit
Die tiefste Frage der Ewigkeit,
- Indes da droben ein Wölkchen geht
Und auch als Frage im Äther steht,
Indes aus des Brunnens Tiefe quillt
Ein Raunen, und rings die Luft erfüllt
Die Grille, indes die Gräser wispern,
Und vom raschen Verblühn die Blumen flüstern, -
Indes wie ein Äolsharfenakkord,
Im Wind herweht ein deutliches Wort.
Denn horch! Inmitten der Mittagsstille
Spricht zu Dem Christus die Sehnsucht, die Frau:
"Prophet - so fragt sie - wie lautet Dein Wille?
Wo sollen wir beten? ... So weit ich schau',
Steht überall eine andre Stätte.
Der Jude betet im Tempel an;
Wir steigen auf Garizims Bergeskette:
Wo find' ich den Gott, dem ich glauben kann?"
... Und der Mund der Gottheit schenkt der Frage
Das klare, wahre, ewige Wort:
"Die Zeit ist da (daß ich's offen sage)
Und sie wälzt sich auf wachsenden Wogen fort,
Wo die Menschen nicht mehr am Orte kleben,
So daß man nicht fragt: Wo bet' ich? Nein! Wie?
Wo die Menschen weltweit die Hände heben
Zum Vater und beugen im Geist das Knie,
Und beten zu Dem, der Geist ist, in Wahrheit
Zu dem Einen Gott in des Himmels Klarheit.
Die Frage der Frau ward die ewige Frage
Der Zeiten, die Sehnsucht auch unsrer Zeit.
Doch bleibt auch die Antwort - daß jedem ich's sage
Die Eine Antwort in Ewigkeit!
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